DAS IST DOCH SCHON LANGE VORBEI …?
Detlef Stoffel im Gespräch mit Andreas Pretzel und Volker Weiß

Auf der Berlinale hatte 2012 der 90minütige Dokumentarfilm «Detlef» von Stefan Westerwelle und Jan Rothstein Premiere. Er gewährt Einblicke in ein bewegtes Leben und liefert ein einfühlsames sensibles Porträt eines einstig «Rosa Radikalen».

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Detlef, Du bist sechzigjährig zu einer Person der Zeitgeschichte geworden. Wie radikal fühlst Du Dich heute?
Wenn mit «radikal» die große Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemeint ist, dann passt das Prädikat wohl, wenn «radikal» auch bedeutet, dass ich mich aktiv an Aktionen von z.B. «attac» oder «occupy» beteilige, dann ist das (zumindest noch) nicht gegeben.
Einer der Filmrezensenten bezeichnet Dich als «Galionsfigur der Schwulenbewegung». Wie fühlst Du Dich mit diesem Prädikat? Geschmeichelt, heroisiert oder historisiert?
Am ehesten geschmeichelt, aber – so positiv es gemeint sein mag – ich glaube nicht, dass ich eine Galionsfigur war oder bin, und «der Schwulenbewegung» sowieso nicht, da es sie als einheitliche Kraft meiner Meinung nach ja gar nicht gibt, eher «bewegte Schwule», die mit durchaus sehr verschiedenen Hintergründen (politisch) aktiv waren oder sind.
Noch während Deines schwulenpolitischen Engagements hast du 1977 den ersten Naturkostladen im Raum Bielefeld eröffnet und Dich selbständig gemacht, ein zunächst schwules Unternehmen gestartet und daraus im Verlauf der Jahre ein erfolgreiches unternehmerisches Netzwerk für überregionales Marketing und den Verkauf von Naturkost aufgebaut. Man könnte sagen: ein sehr erfolgreiches Managerleben. Doch was war Dein Impuls, in dieses Betätigungsfeld einzusteigen? Was war Dir dabei wichtig?
Der Impuls kam vor allem aus der Überlegung, dass wir als Schwule nicht auf gesellschaftliche/politische Veränderungen warten können, sondern uns eigeninitiativ Räume zum Leben und Arbeiten schaffen, in denen die Heteronormativität minimiert werden kann. Ich hatte dazu auch ein Papier geschrieben («Alternative Ökonomie») und zu einem überregionalen Treffen eingeladen. Die Tatsache, dass es sich beim Startprojekt um einen Bioladen handelte, war eher zufällig. Bei der inhaltlichen Beschäftigung mit «bio» wurde aber klar, dass es dort auch um die Überwindung alter und schädlicher Vorgehensweisen und um die Etablierung von etwas Neuem ging – also durchaus passend.
Die von Dir 1972 mit begründete «Initiativgruppe Homosexualität Bielefeld» hat sich 1980 aufgelöst. Welche Gründe gab es dafür? Im selben Jahr platzte die Parteienbefragung in der Bonner Beethovenhalle im Vorfeld der Bundestagswahl, die nach lautstarken Protesten unter tumultartigen Zuständen abgebrochen wurde. Gibt es zwischen beiden Ereignissen einen Zusammenhang?
Ich bin mir nicht sicher, dass sich die Gruppe aufgelöst hat – eher hat sie sich verändert, eine neue Generation von Aktivisten war nachgerückt. Aus Bielefeld kam Anfang des Jahrzehnts die Parole «Heterosexualität weg. Schwul in die 80er Jahre!», die bewegungsintern heftig diskutiert wurde. Im autonomen Jugendzentrum AJZ etablierte sich das «Palais Schamlos» und die Zeitschrift «Triebhaft» wurde herausgegeben – kann sein, dass das nicht mehr unter dem Label «IHB» erfolgte, aber auf jeden Fall in der Tradition der Anfangsgruppe.
Was die Beethoven-Halle angeht, waren es ja nicht zuletzt die Bielefelder, die auf der Seite der Kritiker der Veranstaltung aktiv waren – übrigens unterstützt vom eher heteroorientierten Anarcho-Flügel des «Arbeiterjugendzentrums». An die Anarchos stellten die Schwulen die Forderung, dass ein «ordentlicher» Anarcho ja auch seine sexuelle Identität in Frage stellen müsse. Wahrscheinlich waren da aber ganz handfeste Begehrlichkeiten eher die Triebfeder und die politische Diskussion nur das Vehikel…
Du gehörtest zu den Teilnehmern, die lautstark ihren Unwillen über die Veranstaltung kundgetan haben. Was hat Euch so aufgebracht? Wie habt ihr das zum Ausdruck gebracht? Kannst Du uns schildern, wie Deiner Erinnerung nach der 12. Juli 1980 abgelaufen ist. Habt Ihr den Ausgang der Veranstaltung als Erfolg gefeiert?
Der Hauptgrund der Verärgerung war sicher die Tatsache, dass ein Teil der Bewegung, den man heute wohl als «Realos» bezeichnen würde, bereits in der Vorbereitung der Veranstaltung die Kritiker ausschloss, in der Öffentlichkeit aber für sich in Anspruch nahm, für die gesamte «Bewegung» zu agieren. Insofern hat es bereits im Vorfeld Versuche gegeben, die Veranstaltung zu chaotisieren: Ich habe z.B. gefakte Rundschreiben entwickelt und bundesweit versandt, in denen die «Veranstalter» eine Verlegung der gesamten Aktion mitteilten … Da man nicht miteinander reden konnte, oder reden wollte – ich glaube eher, man konnte wirklich nicht – setzte die Fraktion der miteinander befreundeten Kritiker aus Bielefeld, Aachen, Braunschweig, Nürnberg und anderswo, damals auch «Trillergirls» genannt, auf Stinkbomben und Trillerpfeifen, was die ganze Sache ja schlussendlich auch zum Scheitern brachte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass «wir» das «gefeiert» haben. Es war ja nicht so, dass die «Fundis» so wohlorganisiert waren wie die «Realos».
Die historische Sichtweise auf diesen Tag ist sehr kontrovers. Das, was die einen nur als Desaster, Absturz oder Trauma qualifizieren, schätzen andere als Abschluss eines erstaunlich wirkenden Prozesses der Klärung der politischen Positionen ein, der in seiner Komplexität, Emotionalität und Bereitschaft zur Auseinandersetzung einmalig war. Auf unserer Tagung gab es auch Stimmen der Begeisterung, die aus Sicht der queerpolitischen Praxis ihre Bewunderung für eine gelungene Performanz zum Ausdruck brachten. Wie geht es dir mit der Vielfalt dieser Einschätzungen? Und im Rückblick gefragt: war der so genannte «Eklat» in der Beethovenhalle ein Erfolg, damals und jetzt? Oder war das nur ein Sieg der Fundis über die Realos, wenn auch nur für den einen Tag?
Ich würde nicht sagen, dass da etwas wirklich geklärt worden wäre. Dafür hätten sich beide (!) Seiten vor und nach der Veranstaltung ja auf einen inhaltlichen Diskurs einlassen müssen. Die «Fundis» waren dazu bereit, die «Realos» wollten ihre Veranstaltung ohne wenn und aber durchziehen. Immerhin haben sie in diesem Zusammenhang auch mit dem Einsatz der Polizei gedroht. Dass sie damit an diesem einen Tag nicht durchgekommen sind, könnte man als «Sieg» ohne Nachhaltigkeit bezeichnen.
Im Vorfeld dieser Ereignisse hast Du am 6. Mai 1980 «ein Briefchen an alle, die lieber schwul als grün oder sonstwie (klein)kariert sind und bleiben möchten» geschrieben. Nach der Anrede «liebe Schwestern» beschreibst Du die damalige Situation sehr scharf mit den Worten: «seit einigen Monaten verändert sich das Auftreten von Schwulen (jetzt wohl besser: Homosexuellen) in diesem Land. (...) Positionspapiere, Kungeleien, Arrangements mit den jeweiligen ‹Genossen› – das schwule Leben erstickt im Dschungel von männlich-heterosexuellem Formalk(r)ampf ...» Sarkastisch formulierst Du Deine Kritik am Forderungskatalog für die damalige Parteienbefragung analog zum Anti-AKW-Slogan: «Fantasie – nein danke!» Welche Fantasie hast Du damals vermisst? Und welche vermisst Du heute?
Ich vermisse, heute sogar mehr als damals, die Bereitschaft und damit auch Fantasie, sich mit dem allgegenwärtigen heteronormativen Terror der Gesellschaft kämpferisch auseinanderzusetzen. In der Rückschau war dieser schon erwähnte Slogan «Heterosexualität weg. Schwul in die 80er Jahre» großartig. Heute, immerhin doch etwas klüger geworden, würde man vermutlich so etwas wie «Heteronormativität weg – Vielfalt statt Einfalt» formulieren. Darauf, dass so etwas mal als CSD-Parole durchkommt, können wir vermutlich noch lange warten. Denn inzwischen geht es den meisten ja nicht um eine gravierende Veränderung der Gesellschaft, sondern um die «Einbettung» in sie. Grauenhaft!
Bekannt geworden bist Du mit dem Film «Rosa Winkel – das ist doch schon lange vorbei» (1976). Du bist mit dem Film auf Reisen gegangen, wolltest Diskussionen mit ihm auslösen, wie fünf Jahre vor Dir Rosa von Praunheim mit seinem Film. Von 1976 bis 1978 fanden ca. 200 Filmvorführungen und Diskussionsveranstaltungen in Deutschland, Dänemark, Holland, Schweden und der Schweiz statt. Wo und vor welchem Publikum habt ihr den Film gezeigt? Wie waren damals die Reaktionen? Kam eure Botschaft an, dass Schwulenunterdrückung jeden betrifft, weil Sexualunterdrückung schon immer ein Mittel zur Beherrschung von Menschen war?
Der Film ist so gut wie nie ohne nachfolgende Diskussion gelaufen. Spielorte waren vor allem Jugend- und Kulturzentren, Off-Kinos und eher selten Universitäten oder Schulen – mit entsprechend gemischtem, aber grundsätzlich erstmal «liberalem» Publikum. An dieser Liberalität habe ich mich – manchmal zum Erstaunen bis Entsetzen der Anwesenden ‑ intensiv abgearbeitet, vor allem mit einem Credo wie «Akzeptanz statt Toleranz». Da gab es nicht selten Unverständnis dafür, dass ein Schwuler so gar nicht «dankbar» für die Errungenschaften einer sich vermeintlich liberalisierenden Gesellschaft war. Insofern kann es sein, dass die angesprochene «Botschaft» hin und wieder auf der Strecke geblieben ist.
Du hast ab 1972 an der Universität Bielefeld Soziologie, Sozialpsychologie und Film studiert und hast Dich in einem studentischen Filmklub engagiert. Der 1976 fertig gestellte 50minütige Dokumentarfilm «Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei...» wurde nicht als Diplomarbeit akzeptiert. Warum wurde er von der Universität nicht anerkannt?
Weil die erst 1968 eröffnete «Reformuniversität Bielefeld» erheblich konservativer war, als sie sich nach Außen den Anschein gab. Da der Film, vor allem am Schluss, politisch Stellung bezieht, wurde uns unwissenschaftliches Arbeiten vorgeworfen. Der Dozent, der das Filmstudio leitete, war ein vehementer Vertreter des «objektiven Dokumentarfilms», was immer das sein sollte… Hinter den Kulissen der berühmten Fakultät für Soziologie wurde von einigen auch versucht, die finanziellen Mittel, die für den Film zur Verfügung gestellt wurden, zurückzufordern. Das konnte verhindert werden, als «Belohnung» für eine immerhin über zweijährige Arbeit gab es schließlich einen Methodenschein.
An eurem Dokumentarfilm «Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei...» hast Du gemeinsam mit zwei Kommiliton_innen 1975/76 gearbeitet. Der Untertitel lautet «Über die gerade Linie der Schwulenunterdrückung vom Faschismus bis heute und was Schwule dagegen tun». Ihr nahmt Bezug auf den «Rosa Winkel» und die NS-Verfolgung Homosexueller, um vor diesem Hintergrund aktuelle Diskriminierungsfälle zu thematisieren. Warum habt ihr keine NS-Verfolgten Homosexuellen über ihre Erfahrungen befragt? Waren die Fälle gesellschaftlicher Diskriminierung, die ihr ins Bild brachtet, repräsentativ für die 1970er Jahre in der BRD?
Ich habe mit einem Kommilitonen und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin, die später Professorin wurde, daran gearbeitet. Das Thema «Rosa Winkel» war zu der Zeit gerade ins Bewusstsein einer sehr eingeschränkten Öffentlichkeit gedrungen, unser Film war der erste Film weltweit, der das Thema aufgriff. Wir haben damals keinen Zeitzeugen gefunden, der bereit gewesen wäre, sich interviewen zu lassen. Was nicht heißt, das es keine gegeben haben mag. Zur Illustrierung der damaligen Realität sei aber darauf hingewiesen, dass die in den Straßenszenen des Films auftauchenden «homosexuellen Paare» heterosexuelle Schüler und Schülerinnen des Bielefelder Oberstufenkollegs waren, da aus dem Umfeld der Schwulengruppe niemand bereit war, sich in dieser Form zu «outen». Die damals aktuellen Diskriminierungsfälle waren durchaus repräsentativ – Berufsverbote, Repression in der Familie, Behinderung bzw. Kriminalisierung emanzipatorischer Arbeit, «Heilung» durch Gehirnoperation – und waren auch durch Presseberichte öffentlich geworden.
Auf unserer Tagung ist dein Film auf sehr positive Resonanz bei älteren wie jüngeren Teilnehmern gestoßen. Auch fiel die Äußerung, es wäre besser gewesen, mit Deinem Film anstatt mit Praunheims Film in die Schwulenbewegung zu starten. Wie stellst Du Dich zu dieser Einschätzung? Wie schätzt Du die unterschiedliche Bedeutung und Rezeption beider Filme für die Schwulenbewegung ein?
Ich fand es sehr toll, dass unser alter Schinken noch so gut ankam, weniger toll, dass er so unbekannt war. Was den «bewegungsmäßigen» Einsatz angeht, möchte ich die Filme nicht gegeneinander ausspielen. Rosas und Martins Film wendet sich an erster Stelle an eine schwule Zielgruppe, die ihn ja auch sehr kontrovers diskutiert hat. Ich fand damals diese Art der Provokation wunderbar. Unser Film, der vier oder fünf Jahre später herauskam, definierte als Zielgruppe vor allem Schüler und junge Erwachsene jeglicher sexueller Orientierung, da wir der Meinung waren, dass Einstellungsänderungen bei jüngeren Menschen eher anzuregen wären, als bei älteren. Dass man mit beiden Filmen Widerspruch erzeugen kann, finde ich gut, denn nur so entsteht Bewegung im Gehirn.
Corny Littmann tourte damals mit der schwulen Theatergruppe «Brühwarm» von Mensa zu Mensa. In Deinem Film zeigst du lange Ausschnitte aus ihrem Programm. Was war Dein Verhältnis zu dieser Gruppe?
Die «Brühwarms» waren gute Freunde, und es war nicht selten so, dass nach einer Premiere in Hamburg der nächste Aufführungsort Bielefeld war – vor grundsätzlich ausverkauften Spielstätten. Und wenn ein solcher Aufführungsort z.B. ein städtisches Jungendzentrum war, folgte der öffentliche Skandal auf dem Fuß. So etwas hat mir gefallen und gefällt mir bis heute: Mit einem Theaterstück Grenzen überschreiten und mit der Wahl z.B. des Aufführungsortes die Grenzen der vermeintlich liberalen Öffentlichkeit aufzeigen. Veränderung entsteht durch Reibung, aber viele missverstehen Reibung mit Wichsen …
1972 hast Du die «Initiativgruppe Homosexualität Bielefeld» (IHB) mit gegründet. War auch bei euch der Praunheimfilm der Impulsgeber? Warum habt ihr das Wort schwul, das zur Bezeichnung Eurer Bewegung wurde, im Namen Eurer Gruppe vermieden? Ihr habt provozierende und mutige Aktionen in der Öffentlichkeit gewagt: was waren das z.B. für Aktionen? Zugleich seid Ihr mit eigenen Positionen und deutlicher Kritik auch an schwulenpolitischen Positionen anderer Gruppen hervorgetreten. Was hat die IHB von den anderen unterschieden?
Die IHB entstand durch die Initiative von drei Studenten der Uni, einer davon war ich. Ich glaube, der Urimpuls war sogar ein Graffiti auf einer Toilettentür der Uni-Mensa. Der Praunheimfilm war uns nicht bekannt, dafür aber die Existenz der Münsteraner und Berliner Gruppen. «Geburtshelfer» der Gruppe war die «Zentrale Studentenberatung» der Uni, die einen Raum, generelle Ermunterung und später auch Begleitung bei gruppendynamischen Wochenenden beisteuerte. Vielleicht hat der eher neutrale Gruppenname auch damit zu tun.
Die Gruppe wurde auch nicht als spezifisch politisch orientierte Gruppe gegründet, sondern eher aus dem Impuls «Heraus aus der Isolation!», Hilfe zur Selbsthilfe. Die vorwiegend studentischen Mitglieder (Soziologen, Pädagogen) erweiterten dann recht schnell den gruppendynamischen Anteil der Aktivitäten um die zu der Zeit ja nicht unüblichen Lese- und Diskussionsgruppen politischer Orientierung. Auf der analytischen Ebene hat sich da eine emanzipatorische, auf gravierende Gesellschaftsveränderung bedachte Orientierung statt einer integrationistischen durchgesetzt, auf der Aktionsebene sollte es, wie schon gesagt, vor allem um die Ansprache Jugendlicher gehen. Dabei wurden Konflikte mit staatlichen Institutionen bewusst in Kauf genommen, wenn nicht provoziert.
Als Beispiel mag eine Aktion mit Schülerzeitungen stehen: In einer an mehreren Bielefelder Schulen verteilten Schülerzeitung wurde ein Comic abgedruckt, der eine «verkehrte Welt» darstellt – Homosexualität ist normal, Heterosexualität nicht, die Heten werden diskriminiert. Und beginnen sich zu wehren, gründen Gruppen etc («Ich bin froh und hetero!»). «Natürlich» gibt es ein Happy End, die Kategorien verschwinden und alle leben happily ever after … In der Stadt Bielefeld entstand stattdessen Aufruhr, wochenlang öffentlich dokumentiert durch die Tagespresse. Die üblichen Verdächtigen empörten sich, die auf der anderen Seite entgegneten, bundesweite Unterschriftenkampagne, Wissenschaftler an die Front, die Schülerzeitungsredaktion wurde unter Druck gesetzt und solidarisierte sich mit den Schwulen, das Magazin des Jugendkulturrings druckte nunmehr auch was, der WDR berichtete live im Hörfunk – und drehte später die erste 45-Minuten-Doku über eine deutsche Schwulengruppe. Dabei ist die veröffentlichte Meinung schlussendlich übrigens meistens pro-schwul, wir sind ja noch in den 70ern …
Wichtig für alle Aktionen: Es gibt keine Unterordnung unter z.B. eine Parteiräson und keine Anbiederung an Toleranz Anbietende. Ein, mag sein manchmal überstiegenes, Selbstbewusstsein sagt «Wir sind, wie wir sind, und ändern müssen sich zunächst mal die anderen.» Das unterscheidet uns deutlich von allen, die meinen, den Gang durch die Institutionen erleiden zu müssen … Oder die um des lieben Friedens willen sich auf halbgare Allianzen einlassen. Martin Dannecker äußert sich ja im «Detlef»-Film recht aufschlussreich über diese «Lustfraktion am Rand der Gesellschaft», die vom Rand aus einen deutlich kritischen Blick hat, sich aber nicht komplett aus ihr verabschiedet hat….
Du bist wohl der einzige Aktivist, der vor seinem Engagement in der Schwulenbewegung ein Jahr lang in den USA gelebt hat? Was wusstest Du woher über die «Stonewall Riots», die in Deutschland zum Anfang der 1970er Jahre noch weitgehend unbeachtet blieben sind? Inwieweit hat Dich der Aufenthalt 1970/71 in den USA geprägt?
Ich wurde nach dem Abitur von meiner in Miami lebenden Tante eingeladen und ging dort zur Schule um mein Englisch zu verbessern. Von Stonewall hatte ich keine Ahnung. In den USA habe ich, als absolut verhuschte Maus, gelernt, unverkrampfter mit Menschen umzugehen – und das entscheidende Ereignis war natürlich mein sexuelles Coming Out dort. Obwohl schon 20 hatte ich ja bis dahin keine sexuellen Kontakte.
In «persönlichen Gedanken» zum aktuellen Film über Dich, der Ausgang unseres Interviews war, schreibst Du: «Eine sehr kurze, aber geile, Zeit hatten wir in den 1970er Jahren, die Illusion, dass – unter anderem – auch das offen und kontrovers zum Bestehenden gelebte Schwulsein zu einer Systemüberwindung beitragen könnte.» Resigniert konstatierst Du dann: «Das mittlerweile zum Raubtier gewordene System hat uns eines Schlechteren belehrt. Fast jeder heutige CSD ist systemimmanent und – zu Ende gedacht – profitorientiert. Und damit eine Beleidigung für die Lesben, Schwule und Transen, die sich 1969 mit der New Yorker Polizei geprügelt haben.» Und wirst dann sentimental und poetisch: »‹Wann, wann, wann, fangen wir endlich an, warm zu leben?› singt Corny Littmann in einem der im Film zitierten Theaterstücke. Tja. Wann??? Trotz globaler Erwärmung wird es immer kälter …»
Warum hat Schwulsein nicht die erwünschte subversive Kraft entfaltet, um das kapitalistische System zu überwinden? Ist der «Erfolg» der schwul lesbischen Bürgerrechtspolitik in der BRD nur um den Preis der Heterosexualisierung der Schwulen und Lesben zu haben gewesen? Oder ist diese Bereitschaft der meisten Schwulen und Lesben, sich den «Spielregeln» zu unterwerfen, am Ende Schuld daran, dass keine grundlegenden Veränderungen möglich waren?

Das ist ja kein isoliertes Problem von Schwulen und Lesben. Es ist den emanzipatorisch oder meinetwegen auch subversiv orientierten Bewegungen insgesamt nicht gelungen, die totale Kommerzialisierung aller Lebensbereiche aufzuhalten. Ich glaube es sprengt den Rahmen dieses Interviews darüber zu philosophieren, warum die Mehrheit der Menschen sich trotz besseren Wissens nicht nachhaltiger gegen ihre Entwürdigung auflehnt.
Wenn Du heute auf die jungen studentischen Queer-Aktivistinnen blickst, kannst Du ihre Kritik am Bestehenden und ihre Strategien der Veränderung verstehen? Erfüllt es Dich mit Wehmut, mit etwas Neid oder Bewunderung, dass die jüngere Generation erneut radikale Infragestellungen und Zukunftsperspektiven entwirft? Könntest Du Dir ein Zusammenwirken mit den heutigen Studentinnen vorstellen?
Wenn überhaupt, dann mit denen. Und es erfüllt mich mit Freude, dass es doch immer wieder einige Mutige gibt für radikale Infragestellungen. Ich habe wenig mitbekommen bisher von dieser Queer Theory. Was auf der Tagung geäußert wurde, fand ich spannend. Allerdings würde es dem Ganzen sicher nutzen, wenn auch hier eine Sprache gefunden wird, die nicht nur im queeren Elfenbeinturm verstanden wird (wenn das denn so ist…), sondern auch unten auf der Erde. Großartig finde ich jedenfalls, dass mein aktuelles Lieblingsfeindbild Heteronormativität in den meiner Einschätzung nach richtigen Zusammenhängen erkannt und thematisiert wird.
Wenn Du erlaubst, noch eine vielleicht sehr persönliche Frage: auf Deiner Homepage ist eine berührende Kritik des Films «Solange Du hier bist» zu lesen. Du bezeichnest den Film als «eine beeindruckende Miniatur über den Warencharakter des Umgangs zwischen den Generationen» und pointierst: «Das alte, wabbelige Fleisch bekommt das junge, feste nur, wenn ordentlich gezahlt wird. (...) Auf den schwulen Internet-Dating-Seiten endet das Wunschalter in aller Regel deutlich unter 40, (...) Von wegen ‹Gay Community›». Im Praunheimfilm gab es noch Hoffnung: «Wenn die Zeit kommen sollte, wo Schwule nicht nur den Hauptwert auf den Körper legen, dann wird das Alter auch nicht mehr so ein grauenhaftes Problem sein.» Hat die Schwulenbewegung auch hier versagt?
Da es die Schwulenbewegung nicht gibt, kann sie ja auch nicht versagt haben ;-) Ich habe Kulturen erlebt, in denen das Verhältnis von älteren und jüngeren Menschen entspannter ist als bei uns – noch. Welcher Wert heute auf den Körper gelegt wird, konnte zu Zeiten des Praunheim-Films vermutlich kaum erahnt werden – und wir alle machen mit. Ich selbst bevorzuge ja auch das «jüngere Fleisch» und sitze damit einerseits im Glashaus und bekomme es andererseits trotzdem nicht. Aufregen darf ich mich an dieser Stelle allenfalls über die Begrifflichkeit «Gay Community» – die hat meiner Meinung nach vorwiegend einen kommerziellen und kaum einen sozialen Wert.

Erschienen in: 
Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.)
Rosa Radikale Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre
Edition Waldschlößchen
Männerschwarm Verlag 2012